"Den meisten Menschen ging es darum, zu überleben" (2024)

Für einen neuen Krieg?

Jedenfalls, um ein Machtfaktor zu bleiben, im Innern wie nach außen. 1945 war das anders, niemand in den höheren Militärkreisen machte sich Gedanken darüber, ob man nach dem Untergang noch ein funktionsfähiges Heer brauchen würde.

Noch einmal: Woher aber stammt diese „Kampf-bis-zum-Ende“-Mentalität, die der Wehrmacht und den Deutschen zugeschrieben wurde?

Zum einen bezweifle ich das im Hinblick auf den Großteil der Bevölkerung. Die Menschen hatten ganz andere Sorgen, vor allem: den Krieg zu überleben. Und den meisten Soldaten blieb gar keine Wahl, es war ja nicht ihre Entscheidung, dass sie bis zum Schluss weiterkämpfen mussten. Anders ist das sicherlich bei den Einheiten der Waffen-SS. Die kämpften tatsächlich bis zum Untergang, auch ihrem eigenen. Aber diese "Kampf-bis-zum-Ende"-Mentalität, von der Sie sprachen, ist auch ein Mythos, da ist viel Wagner und Nibelungenmythos dabei.

Am 30. April 1945 beging Hitler schließlich Selbstmord. Wie reagierten die Deutschen auf diese Nachricht?

Aus biografischen Aufzeichnungen wissen wir, dass gerade viele jüngere Deutsche über die Nachricht von Hitlers Tod deprimiert und verzweifelt waren. Andere wiederum waren erleichtert: Gott sei Dank! Weil sie hofften, dass der Krieg nun rasch zu Ende gehen würde. Und natürlich war der Tod des Diktators für alle überlebenden Opfer des Regimes, für die KZ-Häftlinge, die Zwangsarbeiter, die inhaftierten Regimegegner eine beglückende Nachricht.

Neben der Wehrmacht funktionierte auch der nationalsozialistische Mordapparat bis in die letzten Tage des Krieges. Eine Situation, in der durchaus absehbar war, dass die siegreichen Alliierten die Täter zur Verantwortung ziehen konnten. Wie erklärt sich die fortgesetzte Gewalt?

Das ist gut untersucht. Ich möchte das Beispiel des Sauerlands nennen. Dorthin hatten sich zu Kriegsende zahlreiche Zwangsarbeiter aus dem zerstörten Ruhrgebiet geflüchtet, um die Befreiung abzuwarten. Die Gestapo und verschiedene deutsche Einheiten haben das bemerkt. Und das Letzte, was sie taten, bevor sie ihre Uniformen und Abzeichen wegwarfen, war: diese Menschen zu erschießen, Tausende von ihnen, in den letzten Tagen oder Stunden des Regimes. Ebenso bei den "Todesmärschen" der KZ-Häftlinge, bei denen die SS-Wachmannschaften viele Tausende Häftlinge erschossen – und sich dann irgendwie verdrückten. Die Funktionäre des Terrors funktionierten bis zum Schluss. Das spricht für Fanatismus und Enthemmung. Aber offenbar glaubten sie auch an die Notwendigkeit einer absurden Form von "Ordnung". Allerdings kommt bei manchen Verbrechen noch ein anderer Faktor zum Tragen.

Konzentrationslager Buchenwald: Häftlinge nach ihrer Befreiung. (Quelle: ullstein-bild)

Welcher?

Viele Angehörige von SS und Gestapo haben gar nicht damit gerechnet, den Krieg zu überleben. Sie waren durchaus überrascht, dass mit ihnen nach der Niederlage nicht einfach kurzer Prozess gemacht wurde und sie die Nachkriegszeit überhaupt lebendig erreichten. Als sie aber dessen gewahr wurden, trumpften sie nach ein paar Jahren wieder auf und wollten wieder Karriere machen.

Gerade vor dem Hintergrund der Verbrechen, die SS und Wehrmacht im Krieg im Osten begangen hatten: Was erwarteten die Deutschen vom Kriegsende?

Damals kursierte das Bonmot: "Genieße den Krieg, der Frieden wird fürchterlich." Viele Menschen fürchteten sich vor der Rache der Sieger. Denn viele kannten ja die Berichte oder auch nur die Gerüchte über das Wüten der deutschen Truppen im Osten und über die Ermordung der europäischen Juden.

Was war in der Bevölkerung bekannt über das Ausmaß der Verbrechen?

Das ist unterschiedlich. Und hing auch damit zusammen, ob eine Familie Angehörige im Fronteinsatz hatte: Nach Hause kommende Soldaten waren die wichtigsten Informationsquellen über die Ereignisse im Osten. Aber vieles stand ja sogar in der Zeitung, etwa wenn Goebbels in der Zeitung "Das Reich" davon schrieb, dass jetzt im Osten mit den Juden abgerechnet werde. Interessant ist, dass offenbar viele Deutschen überzeugt waren, die Luftangriffe seien die Rache der Juden für das, was die Deutschen ihnen angetan hatten.

Was natürlich auch ein Beleg für den Antisemitismus ist.

Ja, denn offenbar hielten sie "die Juden" für so mächtig, dass sie die Luftangriffe oder gar die Kriegsführung der Alliierten insgesamt organisierten. Auch über das Vorgehen von SS und Wehrmacht in der Sowjetunion war vielen doch vieles bekannt, oder sie hatten doch mindestens die Gerüchte gehört. Deswegen fürchteten sie die Rache der Roten Armee – und die NS-Propaganda tat alles, um diese Angst zu befördern.

Die Zivilbevölkerung war in der letzten Phase des Krieges ohnehin in einer schwierigen Lage.

Man muss bedenken: Deutschland war ja 1918 nicht besetzt worden. Es gab keine Erfahrungen, was geschehen würde, wenn jetzt fremde Soldaten kamen. Und in dieser Situation hat es dann oft tatsächlich so etwas wie eine "Stunde Null" gegeben.

Ein sehr umstrittener Begriff.

Zurecht, weil er, jedenfalls im Westen, die Kontinuität von sozialen Strukturen übertüncht. Aber gemeint ist doch etwas anderes. In vielen Orten hatten Offiziere von Wehrmacht und SS, manchmal auch Parteifunktionäre bis wenige Stunden vor der Kapitulation noch das Kommando geführt und jeden mit dem Tode bedroht, der sich ergeben wollte. Dann waren die Nazi-Chargen plötzlich verschwunden, Hitlerbilder wurden verbrannt, Uniformen versteckt, Orden vergraben. Dann folgten Stunden der Herrschaftslosigkeit, geprägt von gespannter Ruhe und Angst. Und die Bevölkerung wartete mit Bangen auf die Ankunft der ersten fremden Soldaten.

Wie lange dauerte diese "Stunde Null"?

Manchmal nur ein paar Stunden, manchmal länger. Für die Zivilisten war es eine sehr gefährliche Situation. Bürger, die etwa versuchten, die Zerstörung ihres Ortes zu verhindern und mit den alliierten Truppen zu verhandeln, wurden oft noch in buchstäblich letzter Stunde von den Nazis erschossen. Ebenso diejenigen, die zu früh die weiße Fahne heraushängten. Taten sie es zu spät, liefen sie Gefahr, von Soldaten den Alliierten beschossen werden.

Was geschah nach der Einnahme eines Ortes durch die Alliierten?

Die einrückenden Einheiten errichteten meist sehr schnell neue Strukturen, setzten neue Amtsträger ein, vor allem Bürgermeister, und versuchten, Infrastruktur und Versorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Im Osten war das Einrücken der Roten Armee mit massiven Übergriffen verbunden, nicht zuletzt mit Vergewaltigungen, allein in Berlin spricht man von mehr als 100.000 Fällen. Die Nazis, derer man habhaft wurde, kamen in Internierungslager. Das waren nach Kriegsende immerhin mehr als eine Million Personen.

Mit all Ihrem Wissen, das Sie über den Zweiten Weltkrieg angehäuft haben: Welche Lehre können wir heute aus dieser Katastrophe ziehen?

Um zu erkennen, dass man keine Kriege führen und Menschen nicht umbringen soll, muss man nicht einen solchen furchtbaren Krieg erlebt haben. Aber dass Nationalismus zu katastrophalen Folgen führt, dass Rechtsstaat und Gewaltenteilung mehr sind als Parolen aus dem Politikunterricht, das sind ganz gewiss Lehren aus diesen Ereignissen. Und auch, dass die Schrecken des Krieges und der deutschen Besatzung in der Erinnerung der europäischen Völker nach wie vor präsent sind, sollten wir als Deutsche wissen.

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Professor Herbert, vielen Dank für das Gespräch.

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